Mein zweiter Tag auf der Via Albula fing sehr ähnlich an wie der erste: Mit einem wolkenverhangenen Himmel und einem Weg, der abwechslungsreich entlang der Albula führte, bevor er schliesslich immer höher hinauf in den Hang stieg. Wenn man mit dem Zug von Filisur nach Preda fährt, verliert man schnell die Orientierung ob der vielen Viadukte, Kehr- und Spiraltunnel. Und ich stellte fest, dass der Blick von aussen nicht half, Ordnung ins scheinbare Chaos zu bringen: Mal war die Bahnlinie unter mir, mal hoch über mir, mal auf der anderen Bergseite.
Während ich versuchte, den Überblick zu behalten, näherte sich plötzlich ein Helikopter im Tiefflug, machte eine Schleife und setzte direkt vor mir auf dem Wanderweg zur Landung an. Ein paar Arbeiter brachten eine Longline an und danach holte der Helikopter in beeindruckender Frequenz Baumstämme aus einem steilen Waldstück, das irgendwo zwischen Bahntrasse, Felswand und Hochspannungsleitung lag.
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Lai da Palpuogna
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Die 4. Etappe der Via Albula endet in Preda. Doch für eine bloss zweistündige Wanderung war ich nicht so früh aufgestanden, zumal endlich die Wolken verschwanden und dem blauen Himmel Platz machten. Ich verliess die offizielle Route, um mir den Abstecher zum Bahnhof Preda zu ersparen, und folgte stattdessen einem Seitenlauf der Albula, der sich zunächst idyllisch durch die Wiese schlängelte und dann in einem Urwald zwischen Felsbrocken verschwand.
Die nächste Idylle folgte kurz danach mit dem Lai da Palpuogna. Der glasklare Bergsee war umgeben von einem lichten Lärchenwald und in seiner glatten Oberfläche spiegelten sich die umliegenden Berggipfel. Noch malerischer geht nicht mehr. Dies hatten sich wohl auch die Teilnehmer eines Malkurses gedacht, die sich mit Aquarellfarben bewaffnet rund um den See verteilt hatten und versuchten, die märchenhafte Landschaft auf Papier zu bannen.
Für mich ging es nach einer Fotopause weiter, denn ich hatte erst ungefähr die Hälfte meines heutigen Höhenmeter-Pensums hinter mir. Ich erreichte eine ausgedehnte Ebene, die von steilen, mit bunten Alpenblumen übersäten Hängen kesselartig umgeben war. Der Wanderweg stieg entlang der Kesselwand in einem ausladenden Halbkreis stetig an - offenbar werden im Graubünden nicht nur Bahnlinien, sondern auch Wanderwege nach dem Spiralprinzip gebaut.
Ich überquerte ein letztes Mal die Albulapassstrasse, wo sich vollgepackte Velofahrer die Steigung hochquälten, und kehrte dem Albulatal dann den Rücken zu. Nach einer letzten Pause bei den Lais digl Crap Alv quälte ich mich schliesslich selber den Schlussanstieg zur Fuorcla Crap Alv (2'466 m) hoch. Und dann lag plötzlich unter mir das Val Bever, in dessen Talsohle der Beverin in der Sonne glitzerte.
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Einer der Lais digl Crap Alv
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Der Abstieg ins Tal hinunter führte über eine Wiese, die teilweise fast senkrecht zu sein schien. Der Weg war mit zahlreichen Zickzack-Kurven geschickt in den Hang gelegt worden, doch es erschien mir endlos, bis ich endlich mit weichen Knien den Talboden erreichte. Auf einem der zahlreichen Steine am Flussufer wollte ich eine Verschnaufpause einlegen, doch grosse Klammerameisen hatten diese ausnahmslos für sich in Beschlag genommen.
Im Januar hatte ich das Val Bever von der
Jenatschhütte her kommend mit den Schneeschuhen begangen. Mit einer dicken Schneeschicht bedeckt hatte mir das Tal bereits damals sehr gefallen. Doch im Sommer legt hier die Natur noch einen drauf: Pink blühende Alpenrosen vor dem gletscherfarbenen Wasser des Beverins, umrahmt vom satten Grün der Lärchen - es grenzte bereits an Kitsch.
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Blick ins Val Bever Richtung Jenatschhütte |
Die Schönheit der Landschaft lenkte mich etwas von meinen Füssen ab, die sich allmählich schmerzhaft bemerkbar machten. In Spinas hätte ich eigentlich die Gelegenheit gehabt, die Wanderung zu beenden, doch der Bahnhof von Spinas wird von der Rhätischen Bahn nur sehr selektiv bedient. Viel besser waren die Verbindungen nach Pontresina - wo ich meine nächste Unterkunft hatte - ab Bever. Das bedeutete gemäss Wegweiser eine weitere Stunde Fussmarsch und ich hatte bereits festgestellt, dass ich mit den offiziellen Bündner Wegzeiten nicht mithalten konnte.
Tatsächlich lag ich schliesslich über der angegebenen Zeit, als ich mich endlich in Bever erschöpft in den Bus fallen lassen konnte. Die Nachwirkungen dieses über siebenstündigen Gewaltmarsches würde ich noch lange spüren - und noch war ich nicht am Ende meiner Via Albula-Wanderung.
Meine weiteren Etappen auf der Via Albula gibt es
hier.
Wanderinfos:
- Gewandert: Dienstag, 30. Juni 2020
- Route: Bergün - Plan digls Bouvs - Punt Ota - Naz - Egsla - Ruidals - Lai da Palpuogna - Crap Alv - Pkt. 2178 - Lais digl Crap Alv - Chamanna Spinas - Fuorcla Crap Alv - Spinas - Bever (Etappe 4 und 5 der Via Albula/Regionale Route Nr. 33)
- Meine Wanderzeit: 7 h 15 min
- Distanz: 23 km
- Höhenmeter (Aufstieg): 1'370 m
- Übernachten: Hotel Albris, Pontresina