Donnerstag, 2. September 2021

Von der Cavardiras- zur Puntegliashütte: Weglos durch die unberührten Hochtäler der Surselva

@wandernohneende
Nachdem ich zwei Wochen zuvor das Avers bewandert hatte, ging es erneut ins Graubünden, diesmal in die Surselva. Ivan hatte eine dreitägige Tour zusammengestellt, die äusserst verlockend klang, obwohl es mich schon etwas beunruhigte, dass die Wege, die er gehen wollte, teilweise nicht einmal auf der Karte eingezeichnet waren.

Von Disentis ging es zunächst bequem mit der Seilbahn bis Caischavedra. Auch der erste Teil der Wanderung war nur wenig anstrengend und führte mässig ansteigend entlang der Talflanke. Erst als nach dem Lag Serein die Wegmarkierung von rot/weiss auf blau/weiss änderte, nahm die Steigung zu. Die Wegfindung war dabei noch kein Problem: Gefühlt jeder zweiter Felsen war blau/weiss angemalt; irgendjemand hatte wohl überflüssige Farbe aufbrauchen müssen. 

@wandernohneende
Schroffe Felsen umschlossen den Talkessel und je näher wir ihnen kamen, desto steiler und felsiger wurde auch der Untergrund. Eine schöne Kraxelei durch ein Couloir brachte uns die letzten Höhenmeter auf den Brunnipass (2'739 m) hinauf und damit öffneten sich schlagartig neue Horizonte: Unter uns strahlte der Brunnifirn im Sonnenschein und man wähnte sich in einer komplett anderen Welt. Wir konnten uns an der vergletscherten Bergwelt, die vor uns lag, kaum satt sehen.

Wir balancierten über den Blockgrat, bevor wir über die grossen Felsblöcke - assistiert durch Leitern und Ketten - zum Gletscher hinunter kletterten. Die kurze Strecke über den Brunnifirn war mit orangen Verkehrskegeln gekennzeichnet und bald danach kam schon die Cavardirashütte, unser Etappenziel, in Sicht.

@wandernohneende
Es wurde eine kurze Nacht, bereits um sechs Uhr liefen wir im Schein der Stirnlampen von der Hütte ab. Wir hatten eine über siebenstündige Wanderung vor uns und wollten die Puntegliashütte vor dem für den Nachmittag angekündigten Regen erreichen. Im Dunkeln ging es den felsigen Hüttenweg hinunter und ich war manchmal froh, dass man nicht genau erkennen konnte, wie ausgesetzt es tatsächlich war.

Als wir den Talboden des Val Russein erreichten und den kleinen Fluss überquerten, verliessen wir den offiziellen Wanderweg und stiegen eine Wiese hoch, wo wir eine schmale Wegspur erreichten, die einem abschüssigen Hang entlang in ein Seitental hineinführte. Ab da markierten nur noch vereinzelte orange Striche und Steinmännchen die Route.

Unser Plan, früh zu starten, um dem Regen auszuweichen, funktionierte zunächst nur bedingt, denn fast von Beginn weg hatte es immer wieder in unterschiedlichen Stärken genieselt. Richtig nass wurden wir aber nicht vom Regen, sondern vom Wasser, das sich am kniehohen Gras gesammelt hatte und den Hosenbeinen entlang direkt in die Schuhe lief. Schon bald hatte ich ein unangenehm feuchtes Gefühl in meinem linken Schuh.

@wandernohneende
Bei der Alp Russein da Munstér gab es ein letztes Mal Kontakt mit der Zivilisation und einen richtigen Weg. Fast gleichzeitig zog dichter Nebel vom Val Russein hoch und einen Moment lang war ich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, bei diesen Wetterbedingungen eine weglose Wandertour zu machen. Doch meine Bedenken waren unbegründet, Ivan hatte die die Wegfindung jederzeit sicher im Griff.

Ein oranger Pfeil zeigte die Abzweigung Richtung Val Gliems an. Zwischen einem Wasserfall und einem kleinen Wäldchen stiegen wir nach oben und dann traf die prognostizierte Wetterbesserung doch noch ein: Der Nebel verzog sich und zwischen den Wolken blitzte ab und zu die Sonne durch. Wir machten eine kurze Pause, damit Ivan das Wasser aus seinen Bergschuhen leeren konnte.

@wandernohneende
Während beim Einstieg in den Hang zunächst noch eine Wegspur sichtbar gewesen war, verlor sich diese allmählich im hohen Gras, je weiter wir nach oben stiegen. Nur sporadisch bestätigte eine orange Markierung, dass wir uns noch auf der richtigen Fährte befanden. "Steil" ist ein unzureichendes Adjektiv, um die Neigung der Wiese zu beschreiben. Über vierhundert Höhenmeter galt es auf einer Distanz von nur einem Kilometer zu bewältigen. Meine ganze Konzentration galt einem sicheren Tritt, denn Ausrutschen im nassen Gras hätte eine fatale Rutschpartie zur Folge haben können.

In den dringend notwendigen Verschnaufpausen konnte man einen Blick zurück ins Cavardirastal hineinwerfen und wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch die Hütte erkennen, bei der wir am Morgen gestartet waren. Ich war sehr froh, als das Gelände endlich etwas abflachte. Ein coupierter Übergang brachte uns ins Val Gliems. Vor uns lag eine komplett flache Schwemmebene, die von zahlreichen Wasserläufen durchzogen war. Kleine gelbe Blumen wuchsen zwischen dem grauen Schotter und verliehen der kargen Landschaft einen Farbtupfer.

@wandernohneende
Die Hochebene wurde abgeschlossen durch hohe Schuttkegel, die sich unter den Felswänden aufgetürmt hatten. Ivan hatte uns versprochen, dass der zweite Teil des Aufstiegs nicht mehr so steil sein würde wie der erste, aber ein Blick den Berg hinauf zeigte, dass dies brandschwarz gelogen war. Sich zu beklagen nützte aber wenig, zumal ich all meine Energie zum Hochsteigen brauchte. 

Der feine Schotter bot nur bedingt Halt und man musste aufpassen, dass man nicht nach jeden Schritt einfach wieder runterrutschte. Während die meisten Berge um uns herum wiess-grau waren, hob sich ein einzelner brauner Felsrücken von seiner Umgebung ab. Ihm folgten wir immer höher und die Form des Schotters veränderte sich von eckigen Kieselsteinen zu flachen Schieferplättchen.

@wandernohneende
Eine halbe Rolle Traubenzucker später hatte ich es geschafft: Wir standen auf der Fuorcla da Punteglias (2'811 m) zwischen spitzen Felsen und konnten das gleichnamige Tal sehen. Über ein paar übrig gebliebene Schneefelder ging es stotzig hinunter in das Hochtal, das noch rauher und karger schien als dasjenige, das wir gerade hinter uns gelassen hatten. Die wenigen Reste des Puntegliasgletscher klebten an den senkrechten Bergwänden. Der zurückweichende Gletscher hatte rund abgeschliffene Felsen zurückgelassen, die Wellen zu bilden schienen und der steinigen Umgebung eine unbeschreibliche Dynamik verliehen. 

Auf einer Moräne aus grossen Gesteinsblöcken folgten wir dem Gletschervorfeld. Die Steinmännchen wurden zahlreicher und als schliesslich zwei Laternen den Weg zu einer Brücke wiesen, war klar, dass es nicht mehr weit sein konnte zur Hütte.

Tatsächliche tauchte die Puntegliashütte bald hinter einem grossen Felsen auf. Die Hüttenwarte begrüssten uns herzlich. Wir waren die einzigen Gäste und mir gefiel die kleine, liebevoll geführte Hütte mit der familiären Atmosphäre sofort. Nachdem unsere Füsse wieder trocken waren, starteten wir die Erholung von den Strapazen des Tages mit Bier und Schokoladenkuchen. 

@wandernohneende
Am nächsten Tag stiegen wir über den Hüttenweg ins Val Punteglias ab. Im Aufstieg und bei trockenen Verhältnissen wäre dies ein spannender und abwechslungsreicher Pfad über zahlreiche Felsplatten gewesen; im Abstieg und bei Nässe musste man aufpassen, auf den abschüssigen Felsen nicht ins Rutschen zu geraten. 

Bei der Alp Punteglias bogen wir in den Panormaweg ein - auch wenn die Wolken grosse Teile des Panoramas verdeckten - und in einem lockeren Auf und Ab ging es den Hang entlang. Üppig grüne Wälder und Wiesen bildeten einen Gegensatz zur felsigen Landschaft des Vortages. Schon bald kam Brigels in Sicht, wo wir schliesslich unsere Wanderung beendeten.

Es war eine anstrengende, aber ungemein eindrückliche Wanderung gewesen, durch einsame und karge Landschaften, die einem immer wieder staunen liessen. Ich hatte bei den steilen Aufstiegen viel geflucht, doch am Schluss hat sich jeder Höhenmeter gelohnt!

 


Wanderinfos:

  • Gewandert: Samstag/Sonntag/Montag, 21./22./23. August 2021
  • Route: Disentis, Caischavedra - Lag Serein - Brunnipass - Brunnifirn - Fuorcla da Cavardiras - Cavardirashütte (Samstag); Cavardirashütte - Val Cavardiras - Plaun Lavazzas - Stavelets Su - Alp Russein da Mustér - Pkt. 1790 - Val Gliems - Fuorcla da Punteglias - Puntegliashütte (Sonntag); Puntegliashütte - Alp da Punteglias - Alp da Schlans Sut - Plaun da Plaids - Breil/Brigels (Montag)
  • Unsere Wanderzeit: 3 h 30 min (Samstag); 7 h 30 min (Sonntag); 3 h 30 min (Montag)
  • Distanz: 7 km (Samstag); 15,5 km (Sonntag); 11 km (Montag)
  • Höhenmeter (Aufstieg): 970 m (Samstag); 1'200 m (Sonntag); 240 m (Montag)
  • Übernachten: Camona da Cavardiras CAS (Samstag); Camona da Punteglias CAS (Sonntag)
@wandernohneende
Route Cavardiras- Puntegliashütte (Sonntag)



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen